Stabilität ist ein Bedürfnis – Agilität eine Fähigkeit

07. Mai 2019

Agile Strategieprozesse in hybriden Organisationen

Agile Strategieprozesse
Agile Strategieprozesse

Bernd Vermaaten, solute GmbH und Hans-Jürgen Krieg, HLP Strategie Wirkstatt

„Wir planen Kraftwerke mit einem Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren. Regenerative Energiequellen werden in Deutschland maximal 12 bis 14 % des Stromverbrauchs abdecken können. Das ist daher für unsere Strategie irrelevant“ - so ein früheres Statement eines Energieversorgers.

Globale und politische Entwicklungen zugunsten des Ausbaus regenerativer Energien wurden damals ausgeblendet, sei es aus Überzeugung oder wegen eines Wunsches nach Stabilität und Planungssicherheit. 

Dieses Wunschdenken endete spätestens mit dem Beben von Fukushima mit seinen politischen und wirtschaftlichen Nachbeben, wie dem Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie. Doch schon in den Jahren zuvor entwickelte sich der Markt für regenerative Energien rasant durch attraktive Vergütungsmodelle, preiswerte chinesische Solarmodule und die Erfolge der Windkraft sowie auf Autonomie bedachte Kommunen. Warum hat dies nicht schon früher zu einem Umdenken geführt?

War die Energiebranche ein Einzelfall? Keineswegs. Noch kurz vor der Finanzkrise waren die mit aufwendigem Zahlenmaterial unterfütterten, prognostizierten Marktentwicklungen der deutschen Automobilindustrie äußerst optimistisch. Strategen in den Finanzvorstandsbereichen hätten warnend die Finger heben können, dass sich etwas auf den Finanzmärkten zusammenbraut, ausgelöst durch undurchsichtige Finanzderivate und einem überhitzten amerikanischen Immobilienmarkt - man hätte ihnen nicht glauben wollen. 


Was läßt sich daraus ableiten?

  • Die Neigung von Managern in bewährten Bahnen zu denken, verhindert oft den Blick auf „Unvorstellbares“. Strategische Flexibilität bleibt dabei auf der Strecke. Unternehmensplanung reduziert sich häufig auf eine Fortschreibung/Anpassung der strategisch/operativen Planung gegenüber dem Vorjahr.

  • Etwas sarkastischer und mit einer psychologischen Deutung drückt es Roger L. Martin aus: „Manager erstellen gern Pläne, in denen künftige Kosten und Erlöse dargestellt werden. Doch das ist keine Strategie, sondern das Ergebnis ihrer Angst vor Unsicherheit.“

  • Umbrüche sind weniger disruptiv als man denkt. Sie wirken nur disruptiv, weil Manager und Politiker über Jahre weggeschaut haben. Dabei zeigen sich „game changer“ schon frühzeitig. Es ist nur sehr unbequem, sich damit zu beschäftigen, denn sie stellen häufig das bisherige Geschäftsmodell in Frage. Der Aufstieg von Wirecard in den DAX ist ein aktuelles Beispiel für eine verschlafene Entwicklung in der Bankenbranche.

  • Den Warner in der Wüste hört man nicht und der Überbringer schlechter Nachrichten wird geköpft. Hätten die Warner jedoch häufiger die Gelegenheit zu rufen, statt nur einmal im Jahr – vielleicht würden Sie doch noch erhört?


Stellen die Beispiele strategische Planungsprozesse in Frage? 

Sicherlich nicht. Ein Unternehmen muss sich mit Marktentwicklungen, Technologietrends und seinen Ressourcen eingehend beschäftigen, um Weichen für die Zukunft rechtzeitig zu stellen. Es ist eher eine Frage, wie man strategische Planungsprozesse gestaltet. Die Beispiele machen aber deutlich, dass bei den scheinbar so rational, mit viel Zeitaufwand betriebenen Planungen eine Menge Psychologie mit hineinspielt. Vielleicht treibt tatsächlich die Angst vor Unsicherheit den Planungsaufwand so in die Höhe. Je mehr Zahlen, Daten und Fakten man verarbeitet, desto sicherer scheint doch die Planung zu sein. Oder ist es eher das menschliche „Gewohnheitstier“, welches schwache Signale relevanter Marktveränderungen ausblendet und Risiken vermeidet?


Ist der Aufwand für den jährlichen Planungsprozess noch zu rechtfertigen? 

Die Innovationszyklen werden immer kürzer. 110 Jahre – 90 Jahre – 40 Jahre dauerten die ersten drei Industriellen Revolutionen, beginnend mit den mechanischen Webstühlen um 1770. Und heute?

Die technologischen Entwicklungen in Bereichen wie IoT, Künstliche Intelligenz, Robotik, Genome Editing, Blockchain, Virtual Reality oder 3-D-Druck wirken auf unterschiedlichen Ebenen und verstärken sich gegenseitig in ihrem Veränderungs- und Beschleunigungspotenzial. Die Tragweite hieraus wird von großen Teilen der sogenannten wirtschaftlichen und politischen Elite noch nicht verstanden. Einmal jährlich durchgeführte Planungsprozesse, mit großem Aufwand betrieben, muten vor diesem Hintergrund wie Saurier aus der Vorzeit an.


Können Konzerne von Startups lernen, um agiler und flexibler zu werden? 

Man kann schon von einem regelrechten „Startup-Tourismus“ der letzten 10 Jahre reden. Es war angesagt als Konzernlenker mit der ersten Führungsriege ins Silikon-Valley zu fahren. Heute kann man sogar „Startup-Safaris“ in die wachsende Berliner Gründer-Szene buchen, um sich ein Bild von der Innovationskraft, der Kultur, der Agilität, Kreativität von Startups zu machen. Ist das sinnvoll?

Die bisherigen Versuche von Konzernen, ihre Agilität und Innovation durch Integration von Startups zu verbessern, sind eher ernüchternd. Und das ist auch kein Wunder. „…Konzerne sind All-inclusive-Reisende, Startups Dschungelabenteurer; Konzerne sind Armeen, Startups Guerillas; Konzerne sind Orchester, Startups sind Punks. Die Versuche, voneinander zu lernen, scheitern oft an diesen Unterschieden…“, so Dr. Rapp in einem Artikel des Zukunftsinstituts. Zu diesen Unterschiedlichkeiten zählt auch der strategische Ansatz von Startups. Häufig funktioniert Planung nach dem Effectuation-Ansatz. Effectuation verzichtet auf Prognosen, da die Entwicklungen zu ungewiss erscheinen. Der individuell leistbare Verlust bzw. Einsatz (und nicht der erwartete Ertrag) bestimmen, welche strategischen Ziele verfolgt werden. Dies erfordert schnelle Entscheidungen und Wendigkeit in der Strategie. Das ist nicht die Stärke von Konzernen.

Gibt es dennoch Möglichkeiten, die vermeintlich stabile Planung durch agile Strategieprozesse zu ersetzen? Die Verknüpfung von vier Konzepten erscheint hier interessant. Jedes dieser Konzepte wird für sich erfolgreich – auch in größeren Unternehmen und Konzernen – praktiziert:


Die Organisation mit den „zwei Betriebssystemen“ nach John Kotter – der Klassiker der hybriden Organisation

Konzerne mit einer klassischen hierarchischen Organisation sind durchaus imstande sehr flexibel und schnell Marktchancen wahr zu nehmen, wenn sie hinter der hierarchischen Organisationsstruktur eine zweite Struktur aufgebaut haben. Die zweite Struktur ist ein „Satellitensystem“, ein Netzwerk von freiwilligen engagierten Mitarbeitern, häufig auch Nachwuchskräfte, die untereinander und mit der Hierarchie vernetzt sind und in deren Mitte ein interdisziplinäres Team von engagierten Macht- und Fachpromotoren steht („Guiding Coalition“ - GC). Die Mitarbeiter dieses Satellitensystems sind nicht freigestellt. Sie haben ihren regulären Job in der Organisation. Große Unternehmen sind auf Effizienz getrimmt. Dafür ist die hierarchische Organisation gut. Strategische Agilität aber ist die Fähigkeit, Opportunities zu Geld zu machen, Bedrohungen auszuweichen und dies mit Geschwindigkeit. Dies wird durch das Netzwerk von engagierten Mitarbeitern verfolgt.

Die Organisation mit den „zwei Betriebssystemen“ nach John Kotter – der Klassiker der hybriden Organisation
Die Organisation mit den „zwei Betriebssystemen“ nach John Kotter – der Klassiker der hybriden Organisation

Agile SCRUM-Prozesse

Viele IT- Projekte sind zu komplex, um in einen länger gültigen Vorgehensplan gefasst werden zu können. SCRUM verzichtet auf den umfassenden, detaillierten Vorgehensplan und hat sich im IT-Projektmanagement weitgehend durchgesetzt. Zwischenzeitlich werden SCRUM-Prozesse auch auf andere Bereiche übertragen. Im SCRUM-Team gibt es keine Hierarchie, keinen Projektleiter, aber unterschiedliche Rollen. Der Product Owner (PO) arbeitet eng mit dem Kunden zusammen und definiert mit dessen Kundenbedürfnisse und Anforderungen in einem Product Backlog. Er verantwortet auch den wirtschaftlichen Erfolg. Der PO vermittelt eine Produktvision und damit verbunden die Produktanforderungen einem interdisziplinärem Entwicklerteam. Dieses legt selbstständig kurze Arbeits-Sprints, mit verwertbaren Teilergebnissen festlegt. Der SCRUM-Master moderiert den SCRUM-Prozess. Der hierarchiefreien und auf Selbstorganisation setzenden Projektorganisation steht ein höchst strukturierter, auf iterativen Schleifen aufbauender Entwicklungsprozess gegenüber.


Unterjährige Strategie-Meetings mit dem gesamten oberen Führungskreis

Auch das dritte Konzept, unterjährige Strategie-Meetings im oberen Führungskreis, gibt es bereits. In den Strategie-Meetings wird die Unternehmensstrategie nicht neu erfunden. Aber sie wird durch Anwendung interaktiver Großgruppenmethoden, z.B. dem „World Cafe“, auf den Prüfstand gestellt und weiterentwickelt. Veränderte technologische Entwicklungen oder Marktentwicklungen können so schnell aufgenommen werden.

Für eine „World Cafe Konferenz“ genügen zwischen 45 Minuten und drei Stunden. Diese Methode eignet sich um die verschiedenen Sichtweisen kennenzulernen, Ziele und Zusammenhänge zu erkennen, neue Entwicklungen aufzunehmen, genau hinzuhören, zu hinterfragen, konstruktiv zu diskutieren und so gemeinsam Probleme zu lösen und eine Adjustierung strategischer Ziele vorzunehmen. Die Methode erfordert mindestens 12 Teilnehmer, und sie kann mit mehreren 100 Teilnehmern realisiert werden. In Abhängigkeit von Größe und Internationalität des Unternehmens ist ein Mix aus Präsenz- und virtuellen Meetings sinnvoll.


Konsequente Anwendung des Pareto-Prinzips

Normalerweise wird das Pareto-Prinzip in der strategischen Planung benutzt, um die Geschäftsfelder und deren Ergebnisse mit dem Gesamtergebnis des Unternehmens in Beziehung zu setzen. Die pauschale Aussage „20% der Geschäftstätigkeiten generieren 80% des Umsatzes“, soll dabei zum Nachdenken über die wichtigsten Geschäftsfelder anregen. Was wäre, wenn dieser Leitsatz auf den strategischen Planungsprozess angewandt würde? „20% der verfügbaren Unternehmens- und Marktdaten genügen, um 80% der zukünftigen Entwicklungen vorher zu sagen.“ Doch da kommt die Psychologie ins Spiel. Jeder Controller wird bestätigen, dass er einen gewissen Grad an Planungsgenauigkeit einfordern muss, damit diese abgenommen wird. Vertrauen in die Rechenwerke wird dann aufrechterhalten, wenn sie Daten und Informationen in einem ausgewogenen Verhältnis von Versprechensanteilen und konkreter, also korrekter Kalkulation beinhalten.

Der Vertrauensaufwand, den das Controlling betreiben muss, ist so hoch, dass das Pareto-Prinzip oft umgekehrt wird: „Bis zum Wochenende bitte einen Plan, 80% der ergebnisverbessernden Maßnahmen müssen durchgeplant und exakt kalkuliert sein, was bedeutet, dass 20% utopisch sein können und trotzdem als seriös abgenommen werden.“ Unternehmen mit einer positiven Fehlerkultur, größeren Gestaltungsspielräumen und höherer Risikobereitschaft bei Unsicherheit werden damit erfolgreicher umgehen können.


Ein Gedankenexperiment: Was wäre wenn…

…eine „Guiding Coalition“ (GC), die im Zentrum des Netzwerks steht, eng mit dem Controlling (KPC) zusammenarbeitet und dieses 20% (als Hausnummer) der wichtigsten Zahlen, Daten, Fakten einer Unternehmensanalyse, incl. Umfeldanalyse, Trendanalyse und Potenzialanalyse vierteljährlich ajour hält und zur Verfügung stellt?

…die „Guiding Coalition“ im Unternehmen die Rolle eines Product Owners einnimmt? Der Product Owner im SCRUM-Prozess fungiert als Mittler zwischen Stakeholdern/Kunden und Entwicklerteam, die das Produkt in iterativen Arbeitssprints entwickeln. In unserem Fall wären die Stakeholder das Management Board (MB) und der Aufsichtsrat/Beirat (AR/BR), die den strategischen Rahmen definieren. Dieser Rahmen zeigt die grundsätzliche strategische Richtung auf und definiert, was aus Sicht von MB und AR/BR als gesetzt gilt. Das  SCRUM-Entwicklerteam (SET) wird aus dem Satellitensystem generiert. Die Daten werden dabei in Arbeits - „Sprints“ zu einer strategischen Roadmap verdichtet. Dabei fließen in einem Strategieworkshop auch Geschäftsideen von „Trend Scouts“ (TS) – ebenfalls Teil des Satellitensystems – ein. Der Strategie-Workshop umfasst das gesamte „SCRUM-Team“, in unserem Fall bestehend aus der „Guiding Coalition“, dem Strategie-Entwicklerteam und den Trend Scouts.

…die strategische Roadmap vierteljährlich im Management Board und dem gesamten oberen Führungskreis (OFK) präsentiert und diskutiert würde? Wie oben beschrieben kann dies mit der World-Cafe-Methode sehr effektiv und interaktiv erfolgen. Das Strategie-Entwicklerteam präsentiert die strategische Roadmap nicht nur mit Zahlen sondern vor allem in visuellen, leicht verständlichen „Cockpit“-Darstellungen oder „Story Boards“ von Entwicklungen/Trends.

Agiler Strategieprozess
Agiler Strategieprozess

Der Effekt: 

Die Ergebnisse des interdisziplinär zusammen gesetzten SCRUM-Teams (Guiding Coalition, SCRUM-Entwicklerteam, Trendscouts) dürften mehr Gehör und Akzeptanz finden, als wenn Vorschläge durch eine zentrale Stabsstelle erarbeitet werden. Alle oberen Führungskräfte können sich einbringen, alle haben den gleichen Informationsstand, Strategieanpassungen können markt- und zeitnah entschieden und zur Umsetzung freigegeben werden.